Rezension von ›Nimic‹ (Yorgos Lanthimos, 2019)

Nimic bedeutet auf Rumänisch »nichts«, der Name der zweiten Hauptrolle, von Daphne Patakia dargestellt, ist Mimic, was wiederum »nachahmen« im Rumänischen bedeutet. Selbstverständlich nimmt die Nachahmung eine zentrale Stelle in diesem Kurzfilm ein, doch liegt die Kehre bzw. der kehrende Effekt, der diesen Wahnsinn auslöst, woanders. Mimic folgt dem Familienvater, von Matt Dillon dargestellt, nach einer Begegnung in der U-Bahn auf Schritt und Tritt und wächst so mit ihm zusammen und übernimmt seine Rolle. Sie geht seinen Weg, ist Cellistin in seinem Orchester (statt ihm) und ersetzt ihn in der Familienvater-Rolle. Gar so genau mimt sie ihn, dass seine Frau ihn nicht optisch von Mimic unterscheiden kann und die Wahl des »Richtigen« mit einer sensiblen Probe im Bett gelöst wird – eine Umarmung von hinten, ein Kuscheln in der Löffelchen-Position.
Am Ende des Films sieht sich Matt Dillon in der Rolle (und damit auch auf der anderen Seite der U-Bahn) von Mimic. Er wird gefragt, wie zu Beginn er an gleicher Stelle fragt: »Excuse me, do you have the time?«. Wie auch Mimic reagiert Matt Dillon an dieser Stelle, wo er von einem jungen Burschen nach der Zeit gefragt wird, auf seltsame, verhaltene Weise. Er sagt nichts, weil der Film dann schon zu Ende ist, jedoch Mimic hat seine Frage im ersten Aufkommen dieser alltäglichen Szene wiederholt.
Es ist nicht die Frage »What time is it?«, sondern »Do you have the time?«. Haben Sie die Zeit oder haben Sie meine Zeit, weil ich diese Zeit benötige, weil ich auf dem Weg zu einem Termin bin. Das ist die Wendung, die nun geschieht, indem Mimic ihm in seinem Mangel mit derselben Frage antwortet. Do you have the time? (Aber) haben Sie meine Zeit? Der Mimikry ist somit Grund gegeben. Man stelle sich vor, die gewöhnliche Reaktion auf diese Frage läuft auf ein »Nein« oder eine Zeitangabe hinaus. Entweder man hat sie oder man hat sie nicht. Wenn man die Zeit nicht hat und mit Nein darauf antwortet, hat man nicht unbedingt das Bedürfnis, die Zeit zu haben. Entweder man reiht sich ein in das Fragen nach der Zeit, jedoch in einer gemeinsamen Bewegung, und fragt nicht den Fragenden mit demselben Impetus nach der Zeit. In dieser Gleichzeitigkeit der Un-Zeitlichkeit fließt der Raum der beiden nicht ineinander über, so zeigt es auch der Film. Immerzu sind sie versetzt, bis zum Zeitpunkt der Frage nach der Identität: »Tell them who their (den Kids) father is«. Es ist egal, dass Mimic eine Frau ist, dass sie am Morgen nicht da war und plötzlich da ist und die Frage aufkommt, ob sie der echte Vater ist, weil der Bruch der Identität des Vaters in der Zeit stattfindet. Mimic nichtet den Vater nicht räumlich, sie nichtet ihn zeitlich. Es ist ihr ein Leichtes, weil er schon im (zeitlichen) Nichts ist, in der Situation in der U-Bahn. Er will etwas, genauso wie der junge Bursche später etwas von ihm will. Die Frage ist nur, wie entscheidet man sich? Hat (have) man die Zeit, ist man in der Zeit (das heißt, man kann sie angeben, access), oder wirft man sich ins Nichts, indem man die Frage verdoppelt und plötzlich einen Riss in die Identität zieht? In die Identität des Fragenden, aber gleichzeitig ist man selbst Fragender und wird so in hegelscher Manier in aller Differenz identisch.